Feldpost im Zweiten Weltkrieg
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Kasemeier, Edgar: Kriegstagebuch 1941 bis 1945

aus der Sicht eines Infanteristen - Berichte und private Feldpostbriefe, hrsg. von Frithjof Kasemeier

606 Seiten, Fotos, Zeichnungen.
gebunden
ISBN 9783-00-040673-7
EUR 26,80

Ein Tagebuch ist zunächst ein Medium, wo Sender und Empfänger identisch sind. Man schreibt für sich. Ereignisse, die beeindrucken, aber auch der alltägliche Trott findet Eingang in ein Medium, das dazu dient, genau diese Dinge zu reflektieren. Tagebücher enthalten keine neutralen Tatsachenberichte. Der Blick wird auf Details gelenkt, die vom subjektiven Erleben geprägt sind. Genau diese Subjektivität macht sie aber so wertvoll, da sie einen Einblick in das Befinden des Menschen geben, der seine Gedanken, Vorstellungen und seine Interpretationen aber auch seine Vorurteile und Stereotype festhält. Dies kann in dem Versuch geschehen, die Welt darzustellen, wie sie sich dem Subjekt zeigt. Deutlich wird dies bisweilen in ironischen Untertönen, die mehr über das Befinden des Schreibers aussagen als weitschweifige Berichte.

Dabei hat sich Edgar Kasemeier bereits 1941 Gedanken über diese Sichtweisen und Perspektiven gemacht: "Diese Kriegsberichte wollen keine schriftstellerischen Leistungen sein. Sie nehmen auch bewusst Abstand von der üblichen Form eines Briefes, sie wollen nur in schlichten Worten das Geschehen im Osten und das Durchschnittsleben eines einfachen Infanteristen schildern. Deshalb sind auch die Vermutungen und heimlichen Wünsche nicht aufgezeichnet. Die Briefe sind geschrieben in den Zehnminutenpausen, die es beim Marschieren gibt, oder während der Bereitstellung zum Angriff oder ganz und gar während eines Stopp beim Angriff selbst. Andere wieder wurden im Panzerdeckungsloch während einer Verteidigung aufgezeichnet. Wenn sich daher mancher Brief nicht flüssig lesen wird, so liegt es daran, dass an manchen Tagen alle Stunde ein Satz, an anderen Tagen wieder nur abends rückschauend geschrieben wurde. Mit Gegenwarts- Vergangenheits- und Zukunftsbildung wurde also grammatikalisch allerhand gesündigt. Aufs unnötige Spannungsmachen wurde in den Kampftagen deshalb verzichtet, um die Angehörigen zu Hause nicht zu beunruhigen. Außerdem ist es nicht nötig gewesen, da die Kämpfe ohnehin hart genug waren. Und dann habe ich die Briefe auch deshalb geschrieben um später selbst in stiller Stunde mal nachlesen zu können, wie es uns im Osten ergangen ist." (Kasemeier, S. 9) Ob er bei diesen Zeilen nur an sich dachte, oder ob er eine Publikation im Sinn hatte, die auch anderen zugänglich sein sollte, bleibt hier offen.

In diesem Duktus zwischen Tagebuch und Bericht stehen die Veröffentlichungen der Tagebücher und Feldpostbriefe von Edgar Kasemeier. Für eine vom ihm selbst geplanten Herausgabe der Texte im Jahre 1975 macht er sich Gedanken zur Edition und zu den Inhalten von Briefen und Tagebucheintragungen:

"Die Bekenntnisse zu Staat und Führung zerfallen in mehrere Teile:

  1. Echte Wünsche für eine Führung, die im Kriege steht und der man, will man als Soldat sich nicht völlig sinnlos empfinden, helfen wollte.
  2. Floskeln, wie sie damals üblich - Mode - waren (wie Heil Hitler)
  3. Selbst Mut machen oder Anschreiben gegen die Verzweiflung.
  4. Hilfsmittel um sich heraushalten (herausreden) zu können im Notfall.
  5. Vorsorgeanbiederung (Schwejkappell) für den Bedarfsfall, der nie eintrat." (Kasmeier, S. 12)

Diese Aussagen sind nicht nur zu verstehen als nachträgliche Rechtfertigungen, sondern geben auch Einblick in das Selbstverständnis des Briefeschreibers. Sie erläutern, was die Schreiber seinerzeit gedacht haben, als sie unter der Wahrnehmung des Risikos der Zensur aufschrieb, was er dabei empfand. Hinzufügen müsste man aus aktueller Sicht, dass auch der Adressat einen Einfluss auf Inhalt und Stil der Briefe hat. Als Soldat will man die Leser in der Heimat beruhigen. Sie werden mit Nachrichten versorgt, die als Lebenszeichen verstanden werden können.

Zu dem Problem der aktuellen Relevanz einer Publikation schreibt Edgar Kasemeier 1975: "Was soll man jetzt noch argumentieren über Empfindungen die man vor dreißig Jahren hatte. Viele Namen sind vergessen und mich kann niemand über deren Verbleib befragen. Man staunt ja selbst darüber, obwohl man die Nuancen immer noch viel genauer kennt, als man sie damals notierte. Aber es wäre auch ungerecht, das Tagebuch umzuschreiben. Zu viel linke Koketterie käme hinein, vielleicht auch Tresenheldentum. Das Erste wäre die Leugnung eines schmerzlichen Lernprozesses, das Zweite schlicht peinlich. Deshalb kann ich auch das Tagebuch heute selbst nur mit Überwindung lesen und schon gar nicht vorlesen. Denn so viele Facetten hat meine Stimme nicht, um die Vielfältigkeit damaliger Erlebnisse und heutiger Distanz darzustellen." (Kasmeier, S. 12) Diese Erklärungen sind wichtig für den Wert der Veröffentlichung aus wissenschaftlicher Sicht. Forscher müssen wissen, wie authentisch und unverfälscht die abgedruckten Texte sind. Denn nur, wenn sie unverändert veröffentlicht werden, können Sie für Forschungszwecke nutzbar sein.

Die Frage nach den Auslassungen beantwortet der Herausgeber der Briefe: "Das vorliegende Werk entstand durch die Abschrift von hunderten Briefen, die der Autor im Laufe des Russland-Feldzuges mit der Feldpost nach Hause sandte. Wenn keine Kriegsberichte vorlagen, habe ich erhaltene Briefe (kursiv) eingefügt. Diese sind zwar überwiegend privat und nicht unbedingt spannend, liefern aber ein kompletteres Bild der ständig wechselnden Gefühlswelten, welcher sich mein Vater, seine Kameraden an der Front, seine Familie und die Mehrheit der Deutschen ausgesetzt sahen und runden so das Bild ab." (Kasemeier, S. 6) Dass man heute viele der Inhalte als "überwiegend privat und nicht unbedingt spannend" empfindet ist ein Missverständnis. Denn über die Relevanz der Aussagen entscheidet allein der Leser. Aus wissenschaftlicher Sicht dürfen Auslassungen nicht gemaht werden. Jedes Detail - scheint es auch noch so belanglos - kann für eine Fragestellung wichtig sein.

Edgar Kasemeier ist zunächst in der 116. Infanterie-Kompanie. Zu Beginn ist er im Hessen stationiert, denn er schreibt aus Marburg und Lauterbach. Dies ist einer der großen Zufälle, die es bisweilen doch gibt. In Lauterbach lernten sich Ernst und Irene Guicking kennen, denn auch Ernst war bei den 116ern. Die Guickings hinterließen ebenfalls ein großes Konvolut an Briefen, die es nun möglich machen, Wahrnehmungen und Empfindungen von zwei Soldaten zu vergleichen, die zumindest zeitweise gleiche Erfahrungen machen konnten. Dass sich Edgar Kasemeier und Ernst Guicking getroffen haben, ist nicht ausgeschlossen, aber dennoch unwahrscheinlich. Dies zeigen die unterschiedlichen Feldpostnummern und die Wege durch den Krieg.

 

Clemens Schwender, 2013